Wie sieht die Realität von Lernen in Großunternehmen heutzutage aus?
Oft sehen wir in den verschiedensten Unternehmen, dass es eine Abteilung, die im Alleingang für die Konzeption von Weiterbildungsprogrammen verantwortlich ist, diese dann im Voraus von A bis Z durchplant und dabei einen starken Fokus auf die Vermittlung von abstrakten Modellen legt. Was ist das Problem daran? Erstens: Der Arbeitskontext ist zu komplex, als dass eine Abteilung wissen kann, was die tatsächlichen Herausforderungen der Mitarbeitenden in der Praxis sind. Zweitens: Die Veränderungsgeschwindigkeit ist mittlerweile zu hoch, als dass die Weiterbildungen über längere Zeit Gültigkeit beanspruchen könnten. Und drittens: Wir Menschen sind keine rein rationalen Wesen, die anhand von theoretischen Modellen lernen, sondern brauchen auch “Herz” und “Hand”, um uns zu ändern.
Über den Autor
Dominik Etzl ist Solution Development Manager und Trainer bei MDI Management Development GmbH und Geschäftsleiter von Metaforum International. Sein Fokus liegt auf Themen der digitalen Transformation, sowie OKR (Objectives & Key Results), Agile Führung und Lateraler Führung. Sein Ziel ist es, Führungskräfte zu unterstützen, einen wertvollen Beitrag für ihre Umwelt zu leiten: auf individueller-, Unternehmens- und Gesellschaftsebene.
Lernen im agilen Zeitalter: Wasserfall oder Kreislauf?
Es scheint doch klar: Wenn die Mitarbeitenden irgendwo ineffizient sind, wählen wir einen Experten zum Thema Lernen, der durch seine langjährige Expertise qualifiziert ist, das perfekte Lernprogramm mit den passenden Inhalten zu erstellen.
Obwohl dies auf den ersten Blick sehr einleuchtend scheint, gehört dieser Ansatz der veralteten Denkweise des Taylorismus an. Diese sieht Menschen als am Fließband arbeitende Maschinen, für die es nur eine Ingenieurin braucht, die weiß, mit welchem Update die Effizienz erhöht werden kann. Lernen ähnelt hier einem Wasserfall, bei dem von Beginn bis Ende eine Sache kausal zur nächsten führt.
In der Theorie sieht das z.B. so aus:
- Pre-Reading X führt zu
- Aha-Erlebnis, führt zu
- Interesse an mehr, führt zu
- aktiven Einbringen im Seminar, führt zu
- Ausprobieren im Alltag, führt zu
- besseren Unternehmensergebnissen, …
Ist Lernen überhaupt planbar?
Dieser Ansatz ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Schließlich lassen sich rückblickend auf ein Lernerlebnis solche Zusammenhänge erkennen! Ganze Modelle und Firmen haben sich auf die Optimierung dieses Ansatzes spezialisiert. Beispielsweise hat Dr. Donald Kirkpatrick mit dem “New World Model” den wertvollen Beitrag geleistet, dass ein Weiterbildungsprogramm “von hinten nach vorne” designt werden muss, also man vom gewünschten Ziel die notwendigen Verhaltensweisen usw. ableiten muss und nicht umgekehrt.
Das hat seine Richtigkeit. Dennoch bauen diese Ansätze auf einer Annahme auf: Lernen wäre planbar.
Denkübung
Aber ist es das? Bitte denke an eine Sache, in der du Meisterschaft erreicht haben. Wäre dein persönlicher Weg zur Meisterschaft, so wie es sich abgespielt hat, voraussehbar gewesen? Hätte dir irgendein Experte eine schlüssige Kette an Erfahrungen vorgeben können, der sie nur blind folgen müssen, um wirklich gut zu werden? Natürlich nicht. In der Praxis sehen wir dennoch viel zu oft, dass zwanghaft versucht wird, Lernen als kompliziertes, also mechanisch-durchschaubares Problem zu verstehen.
Lernen ist ein zutiefst komplexes Problem
Richtig ist jedoch: Lernen ist ein zutiefst komplexes Problem und damit nicht planbar. Wann auch immer wir es mit Menschen zu tun haben, vor allem mit Wissensarbeiterinnen, befinden wir uns im komplexen Cynefin-Quadranten. Damit verliert der Experte seine Gültigkeit. Es gibt keine “Good Practices” mehr, denen man folgen könnte, sondern nur noch “Emergent Practice”. Das bedeutet es braucht einen iterativen, kollaborativen und ganzheitlichen Zugang zum Lernen. Die Metapher für das Lernen – besonders im digitalisierten 21. Jahrhundert – ist also nicht der Wasserfall, sondern der Kreis.
Die 3×3 Regel
Im Folgenden erfinden wir nichts Neues, sondern lassen die Wirkgesetze des Lernens für sich wirken. Was wir tun, ist 3 Elemente des agilen Lernens, die bisher meist getrennt gesehen wurden, in ein stimmiges Bild zu bringen.
Element 1: 3 Prozessschritte
Die Agilität hat – in komplexen Situationen – die Iteration als den effizientesten Weg zum Ziel definiert. Das Mantra ist: Langes Planen ist Zeitverschwendung, weil sich der Kontext in Veränderung befindet. Effizienter ist, in kleinen Schritten zu gehen und in regelmäßigen Abständen neu den Blick auf das Ziel zu schärfen. Dies gilt fürs Projektmanagement (z.B. SCRUM) oder die Produktentwicklung (z.B. Design Thinking) genauso wie fürs Lernen: “Welche kleine Lerniteration brauche ich jetzt gerade, um meinen morgigen Termin besser als den gestrigen zu meistern?”
Big Picture
Zugleich ist es wichtig, auch beim Lernen das Big Picture nicht aus den Augen zu verlieren. Ähnlich wie bei Unternehmensstrategien, braucht es eine Art Vision oder Nordstern, dem man folgt. Dieser kann auch in regelmäßigen Abständen hinterfragt werden. So bilden kurzzeitige und langzeitige Ziele eine Symbiose, die dem Lerner optimal in der Lernreise unterstützt.
Denkübung
Mache mit: Was ist eine Fähigkeit, auf die du stolz bist? Wie hast du die gelernt? – Denke den Prozess durch: Was auch immer du gelernt hast, zu einem frühen Zeitpunkt hattest du eine zumindest grobe Vorstellung, was du als nächstes lernen wolltest (Planen). Dann bist du ins mehr oder weniger kalte Wasser gesprungen (Handeln). Schließlich warst du entweder glücklich, weil du ein Tempo mehr im Wasser geschafft haben, oder du hast dich erschöpft aus dem Wasser gezogen und analysiert, was noch besser sein könnte (Evaluieren). Dann beginnt der Kreislauf von neuem.
Lernprozess
Sehen wir uns diese – ja zutiefst menschliche – Bewegung bildlich an: Diese 3 Prozessschritte bilden den äußeren Rahmen des MDI Lernkreises: Planen, Handeln & Evaluieren. Sie sind das Skelett, das dem Lernprozess seine Form gibt:
Element 2: 3 Wirkebenen
Vom Laufen im Kreis wird man noch nicht automatisch besser. Wir Menschen sind lebendige Wesen und brauchen Stimulation auf 3 Wirkebenen, welche nur als stimmiges Ganzes Veränderung ergibt. Meist unbewusst, aber dennoch in jedem Lernprozess vorhanden, sind diese 3 Wirkebenen des Lernens:
- Gehirn: Verstehen, warum und wie etwas funktioniert
- Herz: Fühlen, dass die aktuelle Situation nicht gut ist, bzw. eine andere besser wäre
- Hand: Probieren – Nur durchs Tun verändert sich die Welt
Lernen kann an jedem Punkt starten
Tipp: Die 3 Wirkebenen sind nicht chronologisch aufbauend, sondern Lernen kann an jedem Punkt starten. Wichtig ist nicht wann, sondern dass alle 3 stimuliert werden. Denke an einen 3-beinigen Hocker: Fehlt ein Bein – egal welches – kippt der Hocker. Zu dritt schaffen sie Stabilität.
Was passiert, wenn eines der drei “Beine” fehlt?
- Ein Lerner ohne “Gehirn” (kognitive Einsicht) ist im besten Fall ein “blinder Wohltäter” – und im schlechtesten vergeudetes Potenzial, weil er nicht sieht, wann, wie und warum gehandelt werden soll.
- Ein Lerner ohne “Herz” (emotionales Angesprochensein) ist im besten Fall ein “rationaler Optimierer” und im schlechtesten ein narzisstischer Manipulator.
- Ein Lerner ohne “Hand” (praktische Erfahrung) ist im besten Fall ein “wohlwollender Theoretiker” und im schlechtesten ein “abgehobener Besserwisser”.
Diese drei Typen sind Extrem-Ausprägungen, die die Co-Abhängigkeit der 3 Wirkebenen verdeutlichen sollen. In der Praxis findest du diese Typen in abgeschwächter und durchmischter Form. Erkennst du jemanden?
Beispiel
Sehen wir uns aber auch ein Positiv-Beispiel an. Z.B. zum Thema “Feedback geben”: Kritisches Feedback so zu geben, dass es beim Gegenüber als Geschenk ankommt, ist eine Kunst. Das muss gelernt werden. Bist du gut darin? Falls ja: Erinnerst du dich bitte an eine konkrete Feedback-Situation zurück. (Falls nein: Wähle eine andere Fähigkeit, die du gemeistert hast.) – Wenn du ein Meister des Feedbacks bist, hast du sicherlich häufig kritisches Feedback gegeben und erhalten (Hand). – Du hast in mehreren Momenten gefühlt, wie es wirkt, gut sich authentisches Feedback anfühlt und wie schmerzlich versteckte oder unfaire Kritik ist (Herz). Und du hast kognitiv verstanden, dass kritisches Feedback ein Mehrwert ist, der dich und Ihre Kolleginnen voranbringt, auch wenn es nicht immer angenehm ist (Gehirn).
Hinweis: Oft sind es nicht alleinstehende Lernmomente, sondern viele kleine “AHAs”, die zum großen “Heureka” führen.
Element 3: 3 Stakeholder
Im dritten Teil der 3×3-Regel geht es um die Stakeholder. Warum? Lernerfolg im Unternehmen ist nachgewiesenermaßen ein Gemeinschaftserfolg. Es braucht mehrere, die an einem Strang ziehen und ihren jeweiligen Beitrag leisten. Wer ist das konkret? Die Lernforschung zeigt klar, dass 3 Stakeholder in Organisationen dafür entscheidend sind, dass Lernen tatsächlich funktioniert (vgl. Weinbauer-Heidel, Ibeschitz-Manderbach):
- Lerner
- Organisation (besonders HR & Führungskraft)
- Trainer
- Der Lerner
Die Lernende trägt natürlich eine Hauptverantwortung für das Wechselspiel von Lernen und Anwenden. Dabei kommt es vor allem auf den eigenen Willen und das Selbstvertrauen an, den Inhalt kurz- und langfristig anzuwenden. - Die Organisation
Der Lernhebel der Organisation liegt vor allem im Zur-Verfügung-Stellen eines Systems, wie die Kurz- und langfristigen Lernziele definiert und evaluiert werden können, an dem sich Lerner orientieren können. - Der Trainer
Die größten Hebel zum Lernerfolg auf Trainerseite sind das klare Vermitteln der Erwartungen, das Lehren von relevanten Inhalten, das Ermöglichen von aktivem Üben im Seminar und das Durchführen einer Umsetzungsplanung für die Anwendung des Gelernten im Arbeitskontext.
Ähnlich wie bei den 3 Wirkebenen spielen alle 3 Stakeholder wesentlich Rollen für den Lernerfolg in der Weiterbildung. Erfüllt einer der 3 Stakeholder nicht seine Aufgabe, bleiben Potenziale ungenutzt und im schlimmsten Fall fällt das Lernkonstrukt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Der MDI Lernkreis
Zum Abschluss treten wir einen Schritt zurück und weiten unseren Blick wieder vom einzelnen Element zum großen Ganzen. Was sagt uns die 3×3 Regel? Sie bringt auf den Punkt, wie lernen im agilen Umfeld funktioniert. Hier findest du alles in einem Bild zusammengefasst:
- Die 3 Prozessschritte: Planen, Handeln, Evaluieren
- Die 3 Wirkebenen: Gehirn, Herz, Hand
- Die 3 Stakeholder: Lerner, Organisation, Trainer
Berücksichtigst alle 3 Elemente, kannst du dir sicher sein, dass der Lernerfolg in Ihrem Unternehmen steigen wird!
Achtung: Dieser Artikel spricht fast ausschließlich dein Gehirn an – nicht dein Herz oder deine Hand! ?
Überlege dir daher: Welche konkreten nächsten Schritte kannst du machen, um eine agilere Lernkultur in deinem Unternehmen zu etablieren?